Autoren-Statement

Die Idee, einen Film über Kinder aus einem Kinderheim zu drehen, kam uns vor ein paar Jahren. Oft lasen wir Zeitungsberichte über verwahrloste und vernachlässigte Kinder und die Überforderung der Jugendämter, der ganzen Problematik nachzugehen. Als Leser waren wir hin und her gerissen von der Frage, was wohl das Beste für ein Kind sei: Das eigene Zuhause – trotz Verwahrlosung, Schläge, Missbrauch – oder ein Ort fern der Eltern, eine Institution, die Schutz bieten sollte? Bieten Kinderheime einen solchen Ort der Zuflucht und Geborgenheit?

Wir merkten, wie wenig wir darüber wussten und wandten uns an Stefan Küpper, den Leiter des Kinderheims „Maria im Tann“ in Aachen. Küpper ärgert sich seit langem, was für Vorurteile über Kinderheime in Deutschland kursieren. Er war bereit, sich auf Dreharbeiten in der von ihm geleiteten Einrichtung einzulassen, einfach deshalb, weil er die Heimkinder, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben, gerne zu Wort kommen lassen wollte.

Dennoch wurden Recherche und Dreharbeiten alles anderes als ein Zuckerschlecken. Nicht alle Erzieher waren unserer Arbeit gegenüber aufgeschlossen. Dadurch, dass selten vorurteilsfrei über Kinderheime berichtet wird, wurden wir als Fernsehleute nicht mit offenen Armen empfangen. Letztlich ist es der Heimleitung zu verdanken, dass uns das Vertrauen geschenkt wurde, das wir brauchten, um im Laufe der Dreharbeiten das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. „Wenn kein Vertrauen da ist, “ sagt Dominik im Film, „geht irgendwann der Kopf kaputt.“

Unsere Recherchen begannen bereits ein paar Jahre vor den Dreharbeiten für 37 Grad. Zunächst wollten wir wissen, was die Aufgaben eines Kinderheims sind und welche Kinder darin leben.

Zu Anfang hatten auch wir eine Menge Vorurteile im Gepäck. Ein Klischee war zum Beispiel, dass Erziehungsprobleme vor allem in Familien mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsstand vorkämen. Nun konnten wir erfahren, dass das nicht immer der Fall ist. Es gibt eine Armut auch bei gut situierten Familien, wo beide Eltern arbeiten und das Geld keine Rolle spielt. Und wo es zu solch tief greifenden Erziehungskonflikten kommt, dass eines Tages das Kind selbst bei einer Wahl zwischen Kinderheim und Zuhause sich für das Heim entscheidet.

Dann gibt es die Geschichte eines Jungen, dessen Eltern getrennt sind. Als der Vater vor seinen Augen beim Fußballspielen an einem Herzinfarkt stirbt, lebt er bei seiner Mutter. Als sie ihm eines Tages erklärt, sie habe sich in einen Franzosen verliebt und wolle dorthin ziehen, entscheidet sich das Kind in Deutschland zu bleiben. Er wird bei einer Pflegefamilie untergebracht. Aber die Verhältnisse unter den leiblichen Kindern und ihm werden mit der Zeit schwieriger. Und das Kind findet im Kinderheim sein letztes Zuhause vor dem Erwachsen sein.

Wir fanden die Geschichte dreier Geschwister, deren allein erziehende Mutter so schwer an Depressionen erkrankt war, dass sie nicht mehr in der Lage war, das Essen einzukaufen, geschweige denn zu kochen. Die Kinder fielen auf, weil sie im Winter nur im T-Shirt herum liefen und die Schule nicht regelmäßig besuchten.

So unterschiedlich all diese Geschichten auch sind – eins haben sie alle gemeinsam. Der Wunsch eines jeden Kindes, ein normales Leben führen zu können, einen Schulabschluss zu schaffen, einen Sportverein zu besuchen, eines Tages den Führerschein zu machen, und schließlich erwachsen zu werden, mit einer eigenen Familie und Kindern.

Da wurde uns klar, wie weit der Weg bis dahin ist und wie verdammt schwer es ist, nach einem Traumata in der Kindheit halbwegs zu einer Normalität zu gelangen. Und wie wichtig die Arbeit der Erzieher am Wiederaufbau des Selbstbewusstseins der Kinder ist. Wenn die Kinder ins Heim kommen, glauben sie meistens Schuld an ihrer Misere zu haben. Das erste, das sie lernen ist, dass sie nichts dafür können, dass sie ins Heim gekommen sind und dass ihre Eltern in erster Linie Hilfe benötigen und sie sie deshalb nicht erziehen können.

Kevin erzählt es uns so, als wir mit ihm das erste Gespräch filmten: „Das Heim will den Eltern, die Stress hatten, helfen. Weil sonst die Kinder nichts mehr haben, verhungern, weil die Eltern nicht mehr für die Kinder…. Weil sie sich für sich selber brauchen.“

Man will als Heimkind nicht als solches abgestempelt werden. So sind wir mit viel Geduld und Zeit an unsere kleinen Protagonisten herangegangen. Wir haben sie über anderthalb Jahre begleitet und ihre Entwicklung hautnah miterlebt. Während sie am Anfang der Dreharbeiten gerade einen kurzen Satz artikulieren konnten, fingen sie gegen Ende unseres Filmens selbst an zu reflektieren und uns mit kleinen Weisheiten zu beschenken. Auch Eileen, die am Anfang eher distanziert und schüchtern wirkte, ging im Laufe der Zeit immer mehr aus sich heraus und wirkt nun sehr selbstbewusst und glücklich.

Es war uns sehr wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass wir uns über das Filmprojekt hinaus für sie interessieren. Nur so konnten wir ein Vertrauen und eine gewisse Gelassenheit aufbauen, durch die wir später mit starken und prägenden Aussagen belohnt wurden.
Ganz bewusst haben wir uns nicht nach den extremsten Fällen von Gewalterfahrung umgesehen. Also nach Geschichten, die so grausam sind, dass wir sie beim besten Willen nicht verstehen wollen oder können. Aber es gibt auch eine Grausamkeit im Alltag.

Das ist die Sprachlosigkeit in den Familien. Wenn keiner dem anderen mehr zuhört, weil immer der Fernseher läuft, dem auch keiner mehr zuhört. Weil jeder an den Kühlschrank geht, wenn er was braucht und es keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr gibt. Wo die schönsten Geburtstagserinnerungen mit einer Fastfoodkette verbunden sind. Wo die Eltern einfach nicht da sind – wegen Beruf, Krankheit, Überbelastung – und die Kinder mehr oder weniger alleine zu recht kommen müssen. Uns ist bewusst geworden, wie nah und alltäglich diese Schicksale sind und wie oft sie auch da vorkommen, wo man es nie ahnen würde, also bei gut beruflich positionierten Eltern und sogenannten behüteten Verhältnissen.

Ganz sicher soll der Film auch eine politische Wirkung haben, etwa in dem Sinne, wie ein Heimkind uns einmal erzählte: „Hier gibt es viele Jugendliche mit vielen Problemen. Hier gibt es viel Zusammenhalt, auch wenn es hier nicht so scheint. Man versteht sich ziemlich gut. Andere Menschen haben ein anderes Bild vom Heim, denken wie z.B. meine Mutter: ‚Im Heim zerstören sie die Kinder, die machen alles kaputt, die wollen euch nur von euren Eltern wegziehen.’ Und die wissen wirklich gar nicht, wie es ist, weil die Erzieherinnen auch wirklich was für uns tun und helfen, aber die Außenwelt sieht es immer so: ‚Ihr werdet sowieso alle auf der Straße landen.’ Ich glaube, es (der Film) wäre die Möglichkeit, denen zu beweisen, dass es nicht so ist und dass es manchmal zu Hause schlimmer ist als im Heim.“